Logo

RadAmbulanz

Die mobile Berliner Fahrradwerkstatt

Mythen der Fahrradtechnik

In der Fahrradtechnik gibt es wirklich viel Wissenswertes, wo viele viel wissen. Oft entsteht an solchen Stellen ein Wissen, das immer wieder von allen weitergegeben wird, obwohl es einfach nicht stimmt oder jedenfalls so einfach nicht ist. Hier also meine Meinung zum einen oder anderen Detail...

"Mit der vorderen Bremse zu bremsen ist gefährlich, man fliegt zu leicht über den Lenker!"

Also, gefährlich ist es, nur mit der hinteren Bremse zu bremsen, weil der Bremsweg einfach viel länger ist. Bei normalen Fahrrädern ist ein Blockieren des Vorderrads nur mit enormer Handkraft zu erreichen, deshalb passiert das "über'n Lenker fliegen" eigentlich nur, wenn man in Kurven mit der vorderen Bremse bremst, was ein Ausbrechen aus dem Gleichgewicht bewirkt.

Bei sehr guten Bremsen ist dies natürlich anders: Insbesondere bei Scheibenbremsen ist ein Blockieren des Vorderrades durchaus möglich. Umso wichtiger ist es, sich hier an die Bremseigenschaften des Rades zu gewöhnen!

Auf gerader Strecke gilt, dass beim Bremsen mit der hinteren Bremse das Eigengewicht von Rad und Radler*in wg. Trägheit der Masse das Hinterrad entlastet, wodurch bei scharfen Bremsungen das Rad blockiert und schleift (was auch nicht so leicht zu kontrollieren ist).

Beim Bremsen mit der vorderen Bremse wird durch den gleichen Effekt das Vorderrad stärker belastet, wodurch das Rad noch stärker am Boden haftet.

Dies sollte jede*r einmal ausprobieren: Bei einer Notbremsung aus 20 km/h nur mit der Vorderbremse kann man den reinen Bremsweg auf 2-3 m reduzieren, mit der hinteren Bremse ist weniger als 10 m kaum zu schaffen. Und dies einmal ausprobiert zu haben, ist eine gute Vorbereitung auf die nächste sich unachtsam öffnende Autotür (wobei es natürlich sicherer ist, ausreichend Abstand zu halten, aber dazu haben leider nicht alle Radler*innen die Nerven).

Etwas ganz anderes ist das Bremsen in Kurven mit der vorderen Bremse:

Wenn man lenkt und gleichzeitig vorne bremst, tendiert das Vorderrad sehr schnell zum Ausbrechen. Wenn man den Lenker sehr gut festhält, kann man dies bis zu einem bestimmten Punkt noch gut unter Kontrolle behalten, aber unvorbereitet oder ungeübt wird es sehr schnell gefährlich.

Wahrscheinlich kommt daher bei Vielen die Angst, die vordere Bremse überhaupt zu benutzen.

Ein weiterer Aspekt ist, dass sich mittlerweile international durchgesetzt hat, dass der linke Bremshebel die vordere Bremse ansteuert. Dies bedeutet für Rechtshänder, dass sie die Bremse, die die bessere Koordination erfordert, mit der weniger geübten Hand betätigen müssen.

Dies lässt sich natürlich auf Kundenwunsch auch umstellen: Bei den meisten Fahrrädern ist es mit relativ wenigen Handgriffen möglich, die beiden Bremsen zu vertauschen.

Wichtig ist dabei allerdings vor allem, dass alle Fahrräder, die man fährt, mit der gleichen Hand die gleiche Bremse betätigen. Ich habe häufiger Kund*innen, die im Alltag mit einem Rücktrittbremsfahrrad unterwegs sind (ein Bremshebel rechts für die vordere Bremse) und sich dann auf ihrem Trekkingrad oder Rennrad oder Mountainbike unsicher fühlen. Das kann an der fehlenden Rücktrittbremse liegen, oft liegt es aber nur daran, dass der rechte Bremshebel jetzt die hintere Bremse ansteuert.

"Die Rücktrittbremse ist zu schwach, um mit modernen Bremsen mitzuhalten"

So ein Quatsch, hier muss ich dann doch mal aus meinem Fahrradschrauber-Nähkästchen plaudern: Genauso wie mindestens die Hälfte der Radler*innen mit zu wenig Luft in den Reifen fährt, verhält es sich auch mit den Bremsen - eine entsprechende Nutzungsdauer vorausgesetzt, fährt die Hälfte der Räder mit miserablen Bremsen.

Natürlich ist an einem Neurad die V-Bremse überragend stärker als die Rücktrittbremse, aber wenn die Klötze erstmal etwas runtergefahren sind, wird sie richtig viel schlechter, und den kleinen Dreh an der Einstellschraube beherrschen nicht mal 10% meiner Kund*innen.

Desweiteren gilt (siehe oben zum Thema Vordere Bremse): Durch die Gewichtsentlastung des Hinterrades braucht man hinten einfach keine so starke Bremse, zudem ist es vielen Leuten, insbesondere Kindern und Frauen, oft zu lästig, so kräftig mit den Fingern am Hebel zu ziehen, während die Beinkraft doch problemloser zu nutzen scheint.

Noch was? - OK, also die Rücktrittbremsen entwickeln sich auch, bei den Shimano-Naben sind sie schon länger kräftiger geworden, bei SRAM seit Modelljahr 2006 auch.

Und noch Eins: Es ist auch ein Kostenfaktor - Ein Vielfahrer muss für Bremsklotz- und Felgenverschleiß bestimmt € 100 im Jahr rechnen, bei überwiegender Rücktrittbremsen-Nutzung kann das auf € 10 reduziert werden

Und ein Letztes: Bei Rahmen ohne Stange (sog. Damen-Rahmen) ist es immer noch ein konstruktives Problem, dass das Bremsseil an seiner tiefsten Stelle in einer Hülle verläuft, wo es durch eindringendes Wasser einrosten und einfrieren kann. Hier ist die Rücktrittbremse einfach gut (OK, es gibt auch andere gute Lösungen, hydraulische Bremsen oder Mixte-Rahmen, aber die haben auch ihre Schattenseiten).

"Breite Reifen rollen leichter als schmale"

In der letzten Zeit häufig gebrachtes Argument, besonders gern breitgetreten vom Breitreifen-Hersteller Schwalbe, der seinen "Big Apple" hypen möchte: Bei gleicher Bauart und gleichem Luftdruck ist der Rollwiderstand eines breiteren Fahrradreifens geringer. Was die Physik betrifft, stimmt das natürlich.

Aber einerseits gibt es diese Reifen gleicher Bauart nicht, die 60 mm breiten Schlappen dürfen bis 4 Bar aufgepumpt werden, schon die gemäßigten 37 mm breiten in der Regel bis 6 Bar, und Rennräder fahren oft mit 8-10 Bar. Und höherer Reifendruck heißt: geringerer Rollwiderstand.

Und andererseits ist der Rollwiderstand nicht alles, was zum leichtfüßigen, schnellen Fahren verhilft (Keine Sorge, ich fange jetzt nicht vom Luftwiderstand an, der spielt beim Alltagsfahrrad wirklich eine untergeordnete Rolle). Nein, das Gewicht ist der Faktor, denn selbiges will vorwärts bewegt werden und im Falle der Reifen auch noch in Drehung versetzt werden (weswegen man so sagt, dass das Gewicht in den Laufrädern doppelt zählt). Und so ein Big Apple in 60-622 steht mit 995 g in der Liste, was mehr als das Doppelte eines 40-622-Faltreifens ist und gar etwa das fünffache eines leichten Rennreifens.

"Breite Reifen federn das Rad, sodass auf eine Rahmenfederung verzichtet werden kann"

Es stimmt wohl, bei ordentlich reduziertem Luftdruck sind die Federungseigenschaften eines Fahrradreifens kaum zu überbieten, aber dafür muss man bei breiten Reifen den Druck so weit reduzieren, dass der Rollwiderstand wiederum spürbar ansteigt.

In Zahlen: Ein 60 mm breiter Reifen fährt so richtig toll gefedert bei 2 Bar Luftdruck, aber wer mit solchem Reifendruck freiwillig längere Strecken fährt, möchte sich martern. Ich persönlich bevorzuge recht schmale Reifen, bei denen mit moderat reduziertem Druck (z.B. 5 Bar statt der empfohlenen 6,5 Bar bei einem 35 mm breiten Reifen) der Federungskomfort wirklich angenehm ist und der Rollwiderstand nicht spürbar höher.

Feedback

Sie haben Fragen oder Anmerkungen zu dieser Seite? Bitte nicht telefonisch, sondern per Mail an die unten stehende Adresse.